Gestern war ich seit Ewigkeiten mal wieder auf dem Friedhof, nach den Gräbern meiner Verwandten gucken. Ich sage das immer so, „nach den Gräbern gucken“, weil der Besuch an einem Grab mir nichts gibt. Ich halte keine stille Andacht. Überhaupt habe ich (bisher) noch nie verstanden, wenn Leute gerne auf einen Friedhof gehen, weil er ihnen Ruhe gebe, weil sie sich in gewisser Weise behütet von den Toten fühlten. Darüber mache ich mich nicht lustig, gar nicht, aber ich fühle mich dort eher unwohl. Überall totes Gebein. Ist mir schon klar, dass auch an jedem anderen Ort der Welt, auf jedem Quadratzentimeter, schon einmal gestorben wurde, dass ich also, wo ich auch gehe und stehe, über Tote und deren Gebein wandle. Aber im Alltag, unten auf dem Hof meiner Wohnanlange, wenn ich den Müll zur Tonne bringe, kommt mir dieser Gedanke zum Glück nicht. Auf einem Friedhof dagegen schon. Ich bin schon sehr an den Ort gekoppelt, was meine Gefühlslage und Gedanken angeht. Jedenfalls bin ich also, genauestens alle Einfriedungen und Erdaufhäufungen beachtend, zwischen den Gräberreihen langsam durchgeschritten, hab‘ zuweilen zu kleinen Sprüngen angesetzt, um nur ja nicht auf ein Grab auch nur irgendwie draufzutreten, und hab‘ mir währenddessen so meine Gedanken gemacht.
Auf der linken Seite unseres Dorffriedhofes liegen die Protestanten oder die, die es mal waren. Und rechts liegen die Katholiken. Oder die, die es mal waren. Man bekommt nur schwer einen Geistlichen, der die Grabrede hält, wenn man konfessionslos ist. Auch im Tode, eigentlich gerade im Tode, wird penibel darauf geachtet, dass Gleiches nicht zu Gleichem kommt und die Verlorenen nicht zu den Verdammten. Die Katholiken haben also den rechten Glauben, äh, die rechte Hälfte des Friedhofs für sich, die Protestanten die linke, sinistra pars, weil sie falsch liegen, schon immer lagen. Ich ergehe mich in zweitklassigen Wortwitzen. Deshalb zurück zum Thema. Bin ich, und das wollte ich eigentlich fragen, die Einzige, die diese Aufteilung ungehörig findet? Keine Vereinigung, keine Ökumene, kein Überwinden der Gegensätze, niemals? Gibt’s da zwei Tore, eins links, eins rechts, bevor ich nach unten oder oben absteige zu Gott oder seinem alten Vertrauten, dem Teufel? Differenziert Gott? Oder differenzieren seine Torwächter? Differenziert eigentlich auch der Teufel? Schade, dass ich nicht einfach mal kurz fragen und eine eindeutige Antwort, am besten in Schriftform, erhalten kann. Ich gebe aber mal einen Tipp ab: Ich würde sagen, „Nein“. Der Teufel hat mehr zu tun, Gott Besseres, als Tausende Türsteher abzuordnen, die erst mal nach dem Ausweis fragen, bevor sie selektieren. Und wenn Gott im Übrigen keine Versöhnung will, dann kann er seine Tür auch zu lassen. Zumindest für mich. Aber ich komme ja eh in die Hölle, weil ich ständig so provoziere.
Apropos: Irgendwann nicht mehr da zu sein, ist schon ein komisches Gefühl. Vielleicht ist das auch ein Grund, weshalb ich nicht gerne auf einem Friedhof bin. (Wobei ich z.B. sehr bewusst den Bergfriedhof in Heidelberg aufgesucht habe, weil ich Hilde Domins Grabstätte besuchen wollte, aber das ist etwas Anderes, das hat etwas Touristisches.) Ich werde noch eine ganze Weile damit zu tun haben, meine Abwesenheit von dieser Welt nicht mehr befremdlich zu finden.
Beim Wandeln zwischen den Gräbern ist mir auch aufgefallen, wie viele sich da einen riesigen Grabstein aufstellen lassen. So richtig große Teile, breit, hoch, massiv, mit Gravur, Bronzeeinlassungen, Jesusfiguren etc. Teuer eben. Präsent. Repräsentativ. Einen Eindruck vermittelnd. Da frage ich mich, ob das Leben, das sie hatten, genauso beeindruckend war wie ihr Grabstein. Auch hier tippe ich und sage: „Nein“. Das Leben von uns meisten ist weder großartig noch imposant, muss es ja auch nicht, nur zufriedenstellend. Wozu also dann ein mittelmäßiges Leben führen, aber dann einen erschlagend großen Grabstein haben? Oder eilen da die Angehörigen voraus und bestellen die größte Platte am Ort oder zumindest die, die das Budget hergibt, um … ja, um was eigentlich? Was soll mir hier gezeigt werden? Die Brävsten bekommen den größten Stein, ausgesucht oder zugeteilt? Wer entscheidet hier eigentlich nach welchem Urteil? Ich finde das alles entsetzlich unsinnig. Da nehme ich doch lieber zu Lebzeiten mein Geld und baue mir ein riesiges Haus. Oder gehe auf Reisen. Ich muss ja nichts hinterlassen, kein Besitztum. Ich will dieses Leben, das ich ganz gewiss habe (ich lasse jetzt mal alle philosophischen Debatten über die (Un)Möglichkeit meiner Existenz beiseite), genießen. Wenn ich deswegen kein nennenswert umfassendes Hab und Gut besitze, sei’s drum. Aber vermutlich bin ich auch hier schief gewickelt. Ich sehe ja so viele, die es anders machen, und hat nicht immer die Mehrheit Recht? Fassen wir also zusammen: Es ist OK, ein durchschnittliches Leben zu führen, aber einen überdurchschnittlich großen Grabstein zu haben. Vielleicht, fällt mir gerade ein, wird der Grabstein im Jenseits aber, also proportional vergrößert, dazu genutzt, das einem zugeteilte Stück Land zu kennzeichnen. Wer also den größeren Stein hat, bekommt mehr Raum im Paradies zugesprochen oder rückt gar weiter in die Nähe zu Gott. Vielleicht… Nein, lassen wir das. Dünnes Eis und so.
Mir geht’s nicht um „Verscharren und weg“. Dazu habe ich ganz passend Wiesengräber auf unserem Dorffriedhof entdeckt. Fand ich nett. Kleine Steinplatte, Name drauf, keine Einfriedung, nur hier und da ein Blumenstrauß, eine Kerze. Schon eher mein Geschmack. Nur müssen demnächst Blumen & Co. weg, weil der Rasen gemäht wird, sagt eine laminierte Folie an einem Stock zwischen den Platten. Das Leben geht eben weiter. Der Frühling kommt, das Gras muss geschnitten werden. Da ist kein Platz für Sehnsucht und Erinnerung, zumindest nicht in Form von Grabschmuck.
Da haben es die Angehörigen der Urnengräber auf der anderen Seite der Trauerhalle leichter. Da reiht sich Fach und Platte an Fach und Platte, unterhalb ist eine kleine Bank, auf die man seine Blumen, Kränze und Kerzen stellen kann und die dann auch dortbleiben. Wenn kein Wind weht. War ja neulich. Deswegen waren übrigens auch viele Gräber durcheinander. Der Sturm ist aber auch schon wieder eine Woche vorbei und bisher wurde von den Angehörigen nicht aufgeräumt.
Was zur nächsten Überlegung führt: Warum überhaupt ein namentlich gekennzeichnetes, räumlich abgegrenztes Grab? Spätestens die dritte Generation hat den Verstorbenen vergessen oder keinen Bezug mehr zu ihm. Und alle anderen haben einen Alltag und können gar nicht täglich oder zwei-, dreimal wöchentlich auf dem Friedhof nach dem Rechten (ha!) sehen. Dann wird, bei den Erdgräbern zumindest, manchmal eine Platte draufgesetzt, weil das dann weniger Arbeit macht, solange die Pacht fürs Grab noch besteht, zu Ostern und Weihnachten kommt ein Kranz drauf, vielleicht auch eine Kerze. Und die übrige Zeit ist auf diesen Gräbern – nichts. Höchstens, wenn eben keine Platte, wild wuchernde Erika. Die sind pflegeleicht und kaum kaputtzukriegen. Was soll das also, denke ich, meine Nachkommen mit der Pflege einer ungeliebten Stätte in die Pflicht zu rufen? Was habe ich davon? Also, wenn ich mal davon ausgehe, dass ich das so von meiner Wolke aus sehe, was da unten an meinem Grab passiert? Müssten nicht die meisten Seelen ziemlich traurig sein, wenn sie sehen, wie lieblos die Stätte ihres toten Körpers behandelt wird? Sollte ich mir da nicht zu Lebzeiten ein anderes Konzept für meine letzte Ruhestätte einfallen lassen? Eine, über die ich mir nicht den Kopf zerbrechen muss, hüben wie drüben?
Ein anderer Grabstein erzählt übrigens von den großen Wohltaten des Verstorbenen für die dörfliche Gemeinschaft. Wie wenig gewinnbringend muss dieses Leben gewesen sein, wenn man es im Tode nötig hat, seine Verdienste aufzuzählen. „Nur der Bedürftige zählt sein Vieh“, sagt Ovid.
Friedwälder finde ich dagegen toll. Habe schon öfter davon gehört. Man wird verbrannt und die Urne in einem kleinen Waldstück beigesetzt. Plakette an den Baum, namenlos, nur registrierend. Das ist es! Für mich jedenfalls. Keine Parzellen, nach Konfession getrennt, auf Reihe geordnet, namentlich markiert, mehr oder minder liebevoll-säuberlich gepflegt, später vergessen, im Tode noch gefangen an dieser einen Stelle, nie davongekommen. Stattdessen Asche zu Asche, Staub zu Staub, aus meinen Überresten Neues nährend, kein Name, weil es nicht um mich geht, sondern um das große Ganze, keine Exponiertheit, wo keine war und es keine braucht. Bei dieser Art von Tod bin ich überall, überall im Boden, überall in jeder Zelle der Bäume, überall in der Luft, überall, wo mich derjenige, der meine Ruhestätte besucht, sehen und spüren möchte. Das ist großes Kino für mich, da entspinnt sich eine so tragfähige Konstruktion für den Sinn meines Lebens und meines Todes, dass ich die Angst vor demselben verlieren könnte. Weil wir nämlich schlussendlich alle gleich sind und auch ich das hoffen möchte, ganz ohne Konfession und meinen gruppeneigenen Gott, und Gott selbst, so es ihn denn gibt, uns nicht richten wird nach unserem Glauben und unserem Grabstein, sondern nach unseren Taten während des Lebens, das wir hatten. In diesem Sinne: Lasst uns etwas daraus machen!