Sonntag, 26. Februar 2017

Im Tode getrennt

Gestern war ich seit Ewigkeiten mal wieder auf dem Friedhof, nach den Gräbern meiner Verwandten gucken. Ich sage das immer so, „nach den Gräbern gucken“, weil der Besuch an einem Grab mir nichts gibt. Ich halte keine stille Andacht. Überhaupt habe ich (bisher) noch nie verstanden, wenn Leute gerne auf einen Friedhof gehen, weil er ihnen Ruhe gebe, weil sie sich in gewisser Weise behütet von den Toten fühlten. Darüber mache ich mich nicht lustig, gar nicht, aber ich fühle mich dort eher unwohl. Überall totes Gebein. Ist mir schon klar, dass auch an jedem anderen Ort der Welt, auf jedem Quadratzentimeter, schon einmal gestorben wurde, dass ich also, wo ich auch gehe und stehe, über Tote und deren Gebein wandle. Aber im Alltag, unten auf dem Hof meiner Wohnanlange, wenn ich den Müll zur Tonne bringe, kommt mir dieser Gedanke zum Glück nicht. Auf einem Friedhof dagegen schon. Ich bin schon sehr an den Ort gekoppelt, was meine Gefühlslage und Gedanken angeht. Jedenfalls bin ich also, genauestens alle Einfriedungen und Erdaufhäufungen beachtend, zwischen den Gräberreihen langsam durchgeschritten, hab‘ zuweilen zu kleinen Sprüngen angesetzt, um nur ja nicht auf ein Grab auch nur irgendwie draufzutreten, und hab‘ mir währenddessen so meine Gedanken gemacht.

Auf der linken Seite unseres Dorffriedhofes liegen die Protestanten oder die, die es mal waren. Und rechts liegen die Katholiken. Oder die, die es mal waren. Man bekommt nur schwer einen Geistlichen, der die Grabrede hält, wenn man konfessionslos ist. Auch im Tode, eigentlich gerade im Tode, wird penibel darauf geachtet, dass Gleiches nicht zu Gleichem kommt und die Verlorenen nicht zu den Verdammten. Die Katholiken haben also den rechten Glauben, äh, die rechte Hälfte des Friedhofs für sich, die Protestanten die linke, sinistra pars, weil sie falsch liegen, schon immer lagen. Ich ergehe mich in zweitklassigen Wortwitzen. Deshalb zurück zum Thema. Bin ich, und das wollte ich eigentlich fragen, die Einzige, die diese Aufteilung ungehörig findet? Keine Vereinigung, keine Ökumene, kein Überwinden der Gegensätze, niemals? Gibt’s da zwei Tore, eins links, eins rechts, bevor ich nach unten oder oben absteige zu Gott oder seinem alten Vertrauten, dem Teufel? Differenziert Gott? Oder differenzieren seine Torwächter? Differenziert eigentlich auch der Teufel? Schade, dass ich nicht einfach mal kurz fragen und eine eindeutige Antwort, am besten in Schriftform, erhalten kann. Ich gebe aber mal einen Tipp ab: Ich würde sagen, „Nein“. Der Teufel hat mehr zu tun, Gott Besseres, als Tausende Türsteher abzuordnen, die erst mal nach dem Ausweis fragen, bevor sie selektieren. Und wenn Gott im Übrigen keine Versöhnung will, dann kann er seine Tür auch zu lassen. Zumindest für mich. Aber ich komme ja eh in die Hölle, weil ich ständig so provoziere.

Apropos: Irgendwann nicht mehr da zu sein, ist schon ein komisches Gefühl. Vielleicht ist das auch ein Grund, weshalb ich nicht gerne auf einem Friedhof bin. (Wobei ich z.B. sehr bewusst den Bergfriedhof in Heidelberg aufgesucht habe, weil ich Hilde Domins Grabstätte besuchen wollte, aber das ist etwas Anderes, das hat etwas Touristisches.) Ich werde noch eine ganze Weile damit zu tun haben, meine Abwesenheit von dieser Welt nicht mehr befremdlich zu finden.

Beim Wandeln zwischen den Gräbern ist mir auch aufgefallen, wie viele sich da einen riesigen Grabstein aufstellen lassen. So richtig große Teile, breit, hoch, massiv, mit Gravur, Bronzeeinlassungen, Jesusfiguren etc. Teuer eben. Präsent. Repräsentativ. Einen Eindruck vermittelnd. Da frage ich mich, ob das Leben, das sie hatten, genauso beeindruckend war wie ihr Grabstein. Auch hier tippe ich und sage: „Nein“. Das Leben von uns meisten ist weder großartig noch imposant, muss es ja auch nicht, nur zufriedenstellend. Wozu also dann ein mittelmäßiges Leben führen, aber dann einen erschlagend großen Grabstein haben? Oder eilen da die Angehörigen voraus und bestellen die größte Platte am Ort oder zumindest die, die das Budget hergibt, um … ja, um was eigentlich? Was soll mir hier gezeigt werden? Die Brävsten bekommen den größten Stein, ausgesucht oder zugeteilt? Wer entscheidet hier eigentlich nach welchem Urteil? Ich finde das alles entsetzlich unsinnig. Da nehme ich doch lieber zu Lebzeiten mein Geld und baue mir ein riesiges Haus. Oder gehe auf Reisen. Ich muss ja nichts hinterlassen, kein Besitztum. Ich will dieses Leben, das ich ganz gewiss habe (ich lasse jetzt mal alle philosophischen Debatten über die (Un)Möglichkeit meiner Existenz beiseite), genießen. Wenn ich deswegen kein nennenswert umfassendes Hab und Gut besitze, sei’s drum. Aber vermutlich bin ich auch hier schief gewickelt. Ich sehe ja so viele, die es anders machen, und hat nicht immer die Mehrheit Recht? Fassen wir also zusammen: Es ist OK, ein durchschnittliches Leben zu führen, aber einen überdurchschnittlich großen Grabstein zu haben. Vielleicht, fällt mir gerade ein, wird der Grabstein im Jenseits aber, also proportional vergrößert, dazu genutzt, das einem zugeteilte Stück Land zu kennzeichnen. Wer also den größeren Stein hat, bekommt mehr Raum im Paradies zugesprochen oder rückt gar weiter in die Nähe zu Gott. Vielleicht… Nein, lassen wir das. Dünnes Eis und so.

Mir geht’s nicht um „Verscharren und weg“. Dazu habe ich ganz passend Wiesengräber auf unserem Dorffriedhof entdeckt. Fand ich nett. Kleine Steinplatte, Name drauf, keine Einfriedung, nur hier und da ein Blumenstrauß, eine Kerze. Schon eher mein Geschmack. Nur müssen demnächst Blumen & Co. weg, weil der Rasen gemäht wird, sagt eine laminierte Folie an einem Stock zwischen den Platten. Das Leben geht eben weiter. Der Frühling kommt, das Gras muss geschnitten werden. Da ist kein Platz für Sehnsucht und Erinnerung, zumindest nicht in Form von Grabschmuck.

Da haben es die Angehörigen der Urnengräber auf der anderen Seite der Trauerhalle leichter. Da reiht sich Fach und Platte an Fach und Platte, unterhalb ist eine kleine Bank, auf die man seine Blumen, Kränze und Kerzen stellen kann und die dann auch dortbleiben. Wenn kein Wind weht. War ja neulich. Deswegen waren übrigens auch viele Gräber durcheinander. Der Sturm ist aber auch schon wieder eine Woche vorbei und bisher wurde von den Angehörigen nicht aufgeräumt.

Was zur nächsten Überlegung führt: Warum überhaupt ein namentlich gekennzeichnetes, räumlich abgegrenztes Grab? Spätestens die dritte Generation hat den Verstorbenen vergessen oder keinen Bezug mehr zu ihm. Und alle anderen haben einen Alltag und können gar nicht täglich oder zwei-, dreimal wöchentlich auf dem Friedhof nach dem Rechten (ha!) sehen. Dann wird, bei den Erdgräbern zumindest, manchmal eine Platte draufgesetzt, weil das dann weniger Arbeit macht, solange die Pacht fürs Grab noch besteht, zu Ostern und Weihnachten kommt ein Kranz drauf, vielleicht auch eine Kerze. Und die übrige Zeit ist auf diesen Gräbern – nichts. Höchstens, wenn eben keine Platte, wild wuchernde Erika. Die sind pflegeleicht und kaum kaputtzukriegen. Was soll das also, denke ich, meine Nachkommen mit der Pflege einer ungeliebten Stätte in die Pflicht zu rufen? Was habe ich davon? Also, wenn ich mal davon ausgehe, dass ich das so von meiner Wolke aus sehe, was da unten an meinem Grab passiert? Müssten nicht die meisten Seelen ziemlich traurig sein, wenn sie sehen, wie lieblos die Stätte ihres toten Körpers behandelt wird? Sollte ich mir da nicht zu Lebzeiten ein anderes Konzept für meine letzte Ruhestätte einfallen lassen? Eine, über die ich mir nicht den Kopf zerbrechen muss, hüben wie drüben?

Ein anderer Grabstein erzählt übrigens von den großen Wohltaten des Verstorbenen für die dörfliche Gemeinschaft. Wie wenig gewinnbringend muss dieses Leben gewesen sein, wenn man es im Tode nötig hat, seine Verdienste aufzuzählen. „Nur der Bedürftige zählt sein Vieh“, sagt Ovid.

Friedwälder finde ich dagegen toll. Habe schon öfter davon gehört. Man wird verbrannt und die Urne in einem kleinen Waldstück beigesetzt. Plakette an den Baum, namenlos, nur registrierend. Das ist es! Für mich jedenfalls. Keine Parzellen, nach Konfession getrennt, auf Reihe geordnet, namentlich markiert, mehr oder minder liebevoll-säuberlich gepflegt, später vergessen, im Tode noch gefangen an dieser einen Stelle, nie davongekommen. Stattdessen Asche zu Asche, Staub zu Staub, aus meinen Überresten Neues nährend, kein Name, weil es nicht um mich geht, sondern um das große Ganze, keine Exponiertheit, wo keine war und es keine braucht. Bei dieser Art von Tod bin ich überall, überall im Boden, überall in jeder Zelle der Bäume, überall in der Luft, überall, wo mich derjenige, der meine Ruhestätte besucht, sehen und spüren möchte. Das ist großes Kino für mich, da entspinnt sich eine so tragfähige Konstruktion für den Sinn meines Lebens und meines Todes, dass ich die Angst vor demselben verlieren könnte. Weil wir nämlich schlussendlich alle gleich sind und auch ich das hoffen möchte, ganz ohne Konfession und meinen gruppeneigenen Gott, und Gott selbst, so es ihn denn gibt, uns nicht richten wird nach unserem Glauben und unserem Grabstein, sondern nach unseren Taten während des Lebens, das wir hatten. In diesem Sinne: Lasst uns etwas daraus machen!

Dienstag, 5. Juli 2016

Souveränität...




… ist alles. Diese Erkenntnis habe ich in den letzten Monaten gewonnen. Ich habe mich sehr genau beobachtet, wenn ich allein bin, und sehr genau, wenn ich mit Anderen zusammen bin. Ich habe auch Andere beobachtet. Und nachgefragt. Und die Erkenntnis, die da in Ahnungen schon ganz lange in mir war, auf verschiedenen, sich überschneidenden Ebenen auch durchaus präsent, die habe ich nun zusammengeführt. Souveränität. Das ist der Schlüssel zum persönlichen Glück.
Die Kritiker und „Ja, aber“-Rufer werden nun sagen, dass das ja super klingt, solange wir keine Opfer von Gewalt betrachten. Das stimmt. Zumindest mal, wenn man den (meist) physischen Aspekt betrachtet. Ein Opfer von Gewalt wird Schwierigkeiten haben, sich souverän zu fühlen. Umgekehrt kann eben diese Souveränität ihm dabei helfen, sich über sein Schicksal zu erheben. Ich erinnere mich an den Bericht eines Vietnam-Soldaten, James Stockdale, der, weil er es immer bei sich trug, also auch in Gefangenschaft in seinem Philosophiebändchen las. Nach seiner Befreiung berichtete er, dass ihm dieses Buch geholfen habe, Gefangenschaft und Folter zu überstehen und dass umgekehrt seine Peiniger ihn mehrfach gefragt hätten, wie er eigentlich so sehr bei sich bleiben könne angesichts all dessen, was ihm zugefügt werde. Das mag jetzt nach einer netten, aber unglaubwürdigen Geschichte klingen. Ich denke, es stecken zumindest richtige Ansätze in ihr. Das Buch, das der Soldat da stets bei sich hatte, war übrigens das „Handbüchlein der Moral“ von Epiktet.
Mir fallen auch andere Beispiele ein, in denen sich Opfer über ihr Leid und damit ihre Peiniger erheben. Z.B. Malala oder auch andere Frauen, die von männlicher und/oder religiöser Gewalt betroffen waren, sie überstanden und nun öffentlich und – das ist ja das Frappierende – mit einem in sich ruhenden Lächeln ihren ehemaligen Folterknechten die Stirn bieten. Oder auch der Franzose Antoine Leiris, dessen Brief an die Attentäter von Paris nun auch in Buchform Furore macht. Das alles sind die Extrembeispiele, von denen ich eigentlich nicht spreche, die ihr Los überwunden und sich in unantastbare Höhen aufgeschwungen haben. Für solche Menschen empfinden wir Bewunderung, für die, die im wahrsten Sinne unter die Räder gekommen sind, Trauer oder, je nach Sachlage, auch Verständnis.
Souveränität also. Souveränität bedeutet für mich qua definitionem Eigenständigkeit, Unabhängigkeit. Ich möchte eigenständig und unabhängig sein. In meinen Handlungen und meinen Urteilen. Ich möchte nicht affiziert sein von ungebändigten Emotionen. Ungebändigte Emotionen verblenden den Geist. Das heißt wiederum nicht, dass ich nichts empfinden will, das ist kein Wert für mich, aber ich möchte nicht hin- und weggerissen sein von meinen Leidenschaften. Ich möchte klar denken können, jederzeit, und mich und meine Umwelt bewusst wahrnehmen. Genau deswegen käme es für mich z.B. auch nie in Frage, mich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Die Peinlichkeit mich vor Anderen so gehenzulassen ist das eine. Dass ich nicht die Kontrolle über meine Handlungen, Worte und Emotionen habe, das viel Gewichtigere.
Mich und meine Umwelt bewusst wahrzunehmen verlangt auch mich zu positionieren. Das kann man wie Elie Wiesels „one must always take sides“ interpretieren, das ich unbedingt unterschreiben möchte, oder auch so, dass ich nicht nur auf mich und meine Bedürfnisse achte. Ich lebe nicht allein für mich, ich lebe mit Anderen und in der Interaktion mit Anderen, jeder Anflug von Egoismus ist hier per se falsch, denn Egoismus ist im Umkehrschluss unvernünftig. Vernünftig ist, was gut für das Zusammenleben mit Anderen ist. Der Mensch ist ein geselliges Wesen. Wer egoistisch handelt, verrät seine vernünftige Natur. Andersherum spricht nichts dagegen, bei mir zu sein, meine Mitte zu finden, mich unangetastet zu halten von äußeren Einflüssen, sofern sie meinem Gewissen widerstreben, und meinen Geist zu öffnen für das, was gut für mich und dann eben auch alle Anderen ist. Im Idealfall fällt das, was ich soll und will, das, was ich will und was für Andere ebenso zweckmäßig ist, sowieso zusammen.
Souveränität bedeutet auch, Partnerschaften anzustreben und aufzubauen. Ich meine hier sowohl die Beziehungen zu einem Geliebten als auch die zu Familie und Freunden. In letzter Zeit hatte ich das Gefühl, dass die meisten Menschen keine Partnerschaften führen können. Weil sie es gewohnt sind, dass jede menschliche Beziehung das Machtspiel spielt. Einer führt, einer gehorcht, manchmal auch im Wechsel. Wir werden so erzogen – ohne dass ich an dieser Stelle eine anarchische, antiautoritäre Alt-68er- bzw. Neu-2000er-Erziehung propagieren möchte, die in meinen Augen eben nur neue Generationen von Egoisten und Narzissten produziert, die eben nie oder doch zu selten die Grenzen anderer Individuen erfahren haben, denn Souveränität bedeutet eben auch, Grenzen aufzuzeigen und ggf. entschieden zu verteidigen. Nein, ich meine, dass wir es so erfahren, dass es Unterschiede gibt zwischen einem selbst und dem Gegenüber und dass man sich hier eine Rolle aneignet, die man dann spielt. Ich möchte solche Rollenspiele nicht mehr. Ich will keine Schutzräume mehr verteidigen, Grabenkämpfe führen, bittere Pyrrhussiege erringen, Territorien erobern und verlieren, mich stets neu beweisen und den Anderen dominieren oder dominiert werden. Ich möchte auf Augenhöhe agieren. Mit anderen, souveränen Individuen, die weder abhängig noch bedürftig sind. Der Satz „Ich brauche dich“, der ist fatal, meine ich. Es gibt wenig Schlimmeres, was ich zu hören oder zu sagen wüsste. Ich möchte nicht die Verantwortung für mein Glück in die Hände einer anderen Person legen und ich möchte auch nicht, dass mich ein Anderer in die Position wirft, für sein Glück verantwortlich zu sein. Souveränität an dieser Stelle bedeutet auch zu erkennen, dass man stets nur sich selbst vermag glücklich zu machen. „Ich will dich“ – nach vorhergehender Reflexion und natürlich nicht aus einer Laune heraus, klar – ist dagegen ein ganz wunderbares Kompliment, weil dieser Satz die freie Entscheidung eines unabhängigen Charakters wiedergibt. Wenn ich so etwas hörte, ich würde mich sehr freuen.
Ich glaube inzwischen, dass viel Unglück, das ich um mich herum sehe, ob das schlechte Laune, Streitereien, Stress etc. sind, aus eben genannter Abhängigkeit und Unsouveränität entspringt. Ich glaube das wirklich. Auf der anderen Seite empfinde ich die Menschen, die eben nicht sagen: „Ich brauche“, sondern „Ich will“ – und sich das dann eben entschieden und mit der gebotenen, sich ergebenden, zwangsläufigen Rücksichtnahme aneignen – als die zufriedensten. Schlussendlich kann ich immer nur aus mir selbst heraus mein Glück schöpfen. Und wer könnte besser wissen, was gut für mich ist, was ich will, als ich selbst?



Donnerstag, 14. April 2016

Eigentlich...

...sollte ich korrigieren und das mache ich auch gleich, aber im Moment bin ich an den Nachrichten hängengeblieben. Muss ja sagen, dass ich die Böhmermann- jetzt: Affäre völlig unterschätzt habe. Hatte das wohl von Anfang an mitbekommen, mir das Schmähgedicht, um das es nun geht, aber nicht durchgelesen. Muss ich auch nicht. Ich kenne Böhmermanns Satire und ich weiß, dass sie ätzend ist. Das kann man mögen oder auch nicht. Ich z.B. mag es nicht und insofern kann ich verstehen, dass sich ein Mensch, in diesem Falle der türkische Präsident, derart verunglimpft fühlt, dass er auch privat Strafanzeige stellt. Vielleicht würde ich das auch tun, wenn ich eine Person öffentlichen Interesses wäre und ich mich eben auch als Privatfrau bloßgestellt fühlte von so einem Fernsehfuzzi mit hässlichem Bart, wenn ich zu wenig Kaffee getrunken hätte oder meine persönliche Sklavin, äh, Sekretärin ihn einfach wieder mal nicht nach meinem Geschmack zubereitet hätte. Oder wenn mich die Deko meines 50qm großen Büros plötzlich störte und mir schlechte Laune bereitete. Das könnten alles so Gründe sein, warum ich mich entschließen würde, so einem Böhmermann einen richtigen Denkzettel zu verpassen. Das wäre menschlich und ich bin sicher, die zuständigen Gerichte würden dann schon rechtens und richtig entscheiden. Nun gibt es ja aber das Problem, dass nicht ich angegriffen wurde, die ich sicherlich streitbar, aber doch friedliebend, zwar schwerlich kompromissbereit, aber selten offen aggressiv, geschweige denn andere vernichtend bin (also, sag‘ ich jetzt mal so über mich, guten Gewissens). Nein, es wurde eben Erdogan angegriffen – und hier beginnt mein Bauchschmerz. Denn hier haben wir es meines Erachtens mit einem Politiker und Menschen zu tun, der über das gute und vertretbare Maß hinaus die Macht liebt, der keinen Zweifel an seiner Autorität zulassen kann, der Kritik so gar nicht verträgt, der territoriale (und in seiner Logik damit verbundene politische) Großmachtphantasien hegt und seiner Klientel verspricht und auf diesem Wege keine skeptische Betrachtung von außen gebrauchen kann. Ein Donald Trump des Ostens, finde ich, denn diese beiden Männer sind vom gleichen Schlage. „If you attack him, he’ll punch you back ten times harder“, sagte ja auch Trumps Gattin neulich auf einem sehr peinlichen, fremdschämenden Interview. Tolle Qualitäten für einen Politiker, by the way. Nix Diplomatie, auf die Fresse, man, wenn du mir dumm kommst! Sehr liebenswert. Und so vertrauenswürdig. Wenn Trump wirklich Präsident wird, besorg‘ ich mir das Ticket zum Mars. Ich krieg‘ eins, ich hab‘ gute Argumente. Zurück zu Erdogan, dem Übervater. So sehe ich das. Väterlichkeit als mediale Inszenierung. Auch das kann man mögen oder nicht, diese unantastbare, unfehlbare Väterlichkeit, wie sie vor allem „der Osten“ lebt. Ich mag es nicht. Ich finde, Mamas reißen immer viel mehr. Aber auch hier schweife ich ab. Wichtig wäre nun also, dass all die, die Erdogan völlig vorbehaltlos vertreten, eben weil sie ihn als Vaterfigur auffassen, mal von diesem Unfehlbarkeitsdogma abrücken. Auch Väter können verfehlen! Mir schwillt der Kamm – und dabei bin ich gar kein Mann oder gar ein Hahn (aber vielleicht werde ich im nächsten Leben einer, lebt sich gut als Chef auf dem Misthaufen, easy, hab‘ ich vorgestern gemerkt, im Wildpark) –, wenn ich lese, höre, sehe, wie dieser Vater ganz systematisch jedwede auch nur ansätzliche Kritik und Ausflucht aus seiner Großmacht-, aber vor allem Egophantasie mit harter Hand unterdrückt. Das ist nicht richtig und hier gibt es nichts zu diskutieren. Und eben weil DAS so ist, weil es da so schwerwiegende Fehler Erdogans gibt, gerade deswegen macht es mich so wütend, dass Böhmermann nun so einen Ärger am Hals hat, sich ggf. einen Prozess gefallen lassen muss und unter Polizeischutz steht – wo der doch nichts anderes getan hat als von einem ganz grundsätzlichen Recht Gebrauch zu machen, für das die (europäische, westliche) Gesellschaft so lange gekämpft hat.

Dienstag, 29. März 2016

"You are nothing special!"

– dieser Satz einer, ich glaube, amerikanischen Journalistin hat ja vor einiger Zeit für einigermaßen Furore gesorgt. Wenn es mich weiterhin nicht täuscht, dann war er gerichtet an Jugendliche unserer Zeit. Für wen nun auch immer aber verfasst, ich mag den Satz. It speaks the truth. Nimm dich mal nicht so wichtig, das würde ich auch gerne öfter mal sagen, zu anderen, zu mir. Sage ich auch. Aber die Anderen sollten ihn auch sich selbst, ja, mantraartig sagen. Nicht immer, nicht in jeder Situation, aber so allgemeinhin. Gute Sache. „I’m nothing special.“ Das klärt den Geist.

Man möge mich nicht falsch verstehen. Keinesfalls und niemals möchte ich an der Würde meines Gegenübers tasten. Kein Mensch, der Armut, Hunger, Unterdrückung, Verfolgung, Folter, Tod und andere abscheuliche Gräuel aus den Tiefen der menschlichen Seele erleidet, soll sich selbst und seinem Peiniger noch die andere Wange hinhalten und „I’m nothing special!“ rufen. Ich meine mehr den Alltag.

Ich neige ja auch dazu, meine Interessen und Befindlichkeiten als Maßstab anzusetzen. Allein der Satz „Ich würde das (niemals) machen!“ ist im Grunde ein Fehler. Nicole  mensura non est. Punkt. Und trotzdem tue ich es immer wieder. Und bin dann unglücklich, weil andere das nicht so sehen, denn die Stelle der mithin wichtigsten Person der Welt oder doch zumindest der innerhalb eines Radius von 200km, die haben ja schon sie selbst besetzt. Es kann nun aber nicht zwei Sonnen geben, um die das Universum kreist. Zumindest nicht in dem Universum, das wir bisher kennen.

Ich schweife ab. Also, was meine ich? Ich meine Leute, die es eilig haben. Die in der Apotheke anderen Kunden sagen, sie sollen die Augen offenhalten und an die freigewordenen Schalter treten – weil sie, also die sprechende, sich wichtignehmende Person, einen Arzttermin habe. Ich meine die Leute, die in einem Wohngebiet mit 70, 80 Sachen an kleinen Kindern vorbeirauschen und nicht links und nicht rechts schauen. Ich meine Schüler, die klagen, wie anstrengend doch all der Unterricht und wie unfassbar schwierig die Klausuren seien. Ich meine Leute, die ständig über ihren Job klagen. Ich meine – ja, uns alle, und zwar in den Momenten, in denen wir nicht reflektieren, ob und in welchem Maße wir vielleicht selbst für diese unangenehme Situation, in der wir uns befinden, verantwortlich sind. Die Frau in der Apotheke hätte zeitiger losgehen können oder den Besuch in der Apotheke hinter den Arzttermin packen. Oder sie hätte einfach höflich fragen können, ob jemand sie vorlässt, es sei dringend etc. Die Raser im Wohngebiet könnten sich überlegen, dass man im Schnitt nie wirklich viel Zeit gewinnt durch überhöhtes Tempo, vor allem nicht innerstädtisch, wo sowieso dauernd Ampeln kommen. Schüler könnten sich im Zeitmanagement und der Prioritätensetzung üben und sich außerdem immer mal wieder überlegen, dass von nichts nichts kommt. Die Jobklagenden: Vielleicht wäre es sinnvoll, die Firma zu wechseln. Sowas geht, auch wenn es schwierig ist. Es geht überhaupt alles, was man wirklich will. Davon bin ich fest überzeugt.

Und in der Zwischenzeit macht man eben seinen „fucking job“ und erfüllt seine Plichten. Nicht alles muss Spaß machen. Und für die richtig geilen Sachen muss man eben meist auch etwas mehr mitbringen als die bloße Existenz. Mit der Zusatzqualifikation „hat immer Spaß im Leben“ ist nicht mal Gott in die Welt gekommen. Deshalb also bitte mehr „I’m nothing special“, und zwar im Sinne der Pflichterfüllung (freilich: niemand darf über die Maßen verpflichtet werden, auch das ist ein alter Grundsatz und ein Moment, in dem es jedem sehr wohl steht, den Mund aufzumachen) gemäß Vorgaben und Verträgen, die man bereit war einzugehen, im Sinne des Reflektierens: „Inwiefern bin ich in der Verantwortung?“ und dem daraus folgenden Überlegen, wie sich die bemängelte Situation verbessern lässt, Reflektieren aber auch in der Art, dass es Situationen gibt, die sich nun mal nicht mehr ändern lassen – und dass darunter aber niemals ein anderer einen Nachteil zu erdulden oder anderswie zu leiden haben darf. Das meine ich mit „You are nothing special!“.

Freitag, 25. März 2016

Nach Brüssel...

... bin ich wieder mal ins Denken geraten. Das mag nutz-, weil fruchtlos sein. Aber lassen kann ich’s auch nicht. Gedacht habe ich also, und das mit jedem neuen Mal mehr, dass ich Religion für Teufelszeug halte. Nicht unbedingt für das marx’sche Opium fürs Volk, auch, aber erst in zweiter, dritter Linie. In erster glaube ich immer mehr, dass Religion, zumindest die monotheistischen und wahrscheinlich auch die Vielgötterei der Hindus, soweit ich das durchblicke, ein Machtinstrument in den Händen frustrierter, sich gering fühlender, nach Macht strebender Individuen geworden ist.
Ich war mal bei einem Baptistengottesdienst dabei, einfach so, weil ich wissen wollte, was das da so abläuft. Kann nicht sagen, dass ich gestaunt hätte. Schon gar nicht, dass ich berückt worden wäre von Gottes Anwesenheit. Ich glaube vielmehr, Gott war so weit weg, wie er nur weg sein konnte. Möchte kein Ketzer sein – oder doch, ja, irgendwie schon –, aber selten, wirklich selten habe ich mich in einer vergleichbaren Situation befunden, nämlich der, dass mich der Ekel gepackt hat. Dass ich gerne geschrien und getobt hätte angesichts der Gehirnwäsche, die dort vonstattengeht. Ich glaube, wenn man in eine solche Gemeinschaft hineingeboren wird, dann hat man nur zwei Möglichkeiten: Akzeptieren und unhinterfragt annehmen, was geschieht. Sonst wird man unglücklich, sein Leben lang. Oder man rebelliert und bricht die Brücken hinter sich ab. Was auch auf lange Sicht unglücklich macht, aber die Chance bietet auf ein freies, undiktiertes Leben am Ende des Unglücklichseins.
Nie werde ich den Priester vergessen, der vorne am Rednerpult stand wie Adolf und auch genauso redete (er verfolgt mich). Entsetzlich. Letztinstanzlich verurteilend. Und seine Gemeinde, die an keiner einzigen Stelle lächelte oder gar gelacht hätte – aber hey, hier wurde Jesus gepriesen und sein Opfer, das er der von ihm und seinem Vater so geliebten Welt und Menschheit darbringen wollte! Und dann sitzen sie alle da mit versteinerten Mienen und murmeln mehr denn singen die Texte der Lieder mit, die sie schon 1328x gesungen haben und auswendig können, dumpf, auf den Boden starrend, wie Autisten nach vorne und hinten wippend. Im besten Falle könnte man Ekstase unterstellen. Dank an Jesus durch Demut oder so. Ich kann nicht sagen, wie antiquiert ich dieses Weltbild finde. Viel eher glaube ich aber, dass alle einfach Schiss vor diesem Priester hatten.
Was mich daran erinnert, dass ich im Vorfeld meiner Kommunion, da war ich also so ca. neun Jahre alt, beichten MUSSTE. Musste. Das gehöre dazu, wurde uns erklärt vom Kirchengemeinderat, der uns auf die Kommunion vorbereitete (und immer extrem nach Urin stank). Ein Katholik müsse regelmäßig zur Beichte gehen. Blöd war ja nur, dass die kleine Nicole außer den üblichen Kinderfrechheiten Mama gegenüber nichts zu beichten hatte. Und deswegen nach genau dieser Beichte, die unendlich viel Überwindung und Kraft gekostet hatte – ich habe mich gefühlt, als würde ich gleich auf dem Altar geschlachtet –, auch sofort aufsprang und aus dem Beichtstuhl rannte. Aus der Kirche flüchtete. Es war eine Flucht, und sie war mit vielen Tränen verbunden. Die Firmung mit 14 habe ich noch mitgemacht, weil ich ja immer dachte, ich wolle mal in Weiß heiraten (inzwischen weiß ich es besser: bloß nicht heiraten und schon gar nicht in Weiß!), mich bis dahin mit Hängen und Würgen sehr unregelmäßig sonntags in die Kirche geschleppt, zum Ministrieren. Weil ich da so unzuverlässig war, wurde ich vom Pfarrer selbst mit ernster Miene aus der Gruppe der Ministranten exkludiert. Ich war froh darum. Anscheinend hatte meine Emanzipation vom katholischen Glauben da schon angefangen.
Der Freund, der in der Baptistengemeinde groß geworden ist, hat erzählt, regelmäßig seien auch Exorzitien durchgeführt worden. Früher mehr, heute weniger. Was ist das denn für eine krasse Scheiße? Exorzitien?! Und eine vom Teufel Besessene habe in ihrem Wahn Michael Jackson in der Hölle tanzen sehen. Michael Jackson. In der Hölle. Man kann auch immer nur das geistig verarbeiten, was man kennt, meine ich. Und den in die Hölle schicken, den man nicht mag. Ob sie auch ihren Gemeindepfarrer in der Hölle hätte sehen können? Da würde ich ihn nämlich sehen, auch bei Kaffee und Sonnenschein, während wir auf der Parkbank saßen, klaren Verstandes, wie ich sagen würde. Der Freund hat gelacht. Vermutlich nicht. Den mag sie ja.
Apropos Hölle. Ich neige ja zur Wiederholung, aber ich sag’s trotzdem nochmal: Gott will nicht töten. Er KANN das nicht wollen. Gott MUSS lieben. Sonst wäre es nicht Gott. Sonst wäre es ein Mensch. Und damit schließt sich der Kreis, wenn ich anschaue, was da in Brüssel passiert ist. Und noch öfter passieren wird, an anderen Orten. Diese vermeintlichen Märtyrer, die glauben mit Sicherheit, dass sie für eine höhere Sache sterben. Sie vergessen, auf welcher Grundlage sie angefangen haben. Nämlich aus dem offensichtlich profunden Gefühl heraus, nicht willkommen zu sein, nicht dazuzugehören. Sie haben ihre vermeintliche oder tatsächliche Isolierung zum Stigma erhoben, sich selbst zu etwa Höherem geweiht. Und das alles aus Frust heraus. Sie sterben, weil sie frustriert sind. Weil sie einmal in ihrem Leben bedeutungsvoll sein und Bedeutungsvolles tun wollen. Für die anderen Isolierten, gegen die große Mehrheit der vermeintlichen oder tatsächlichen Ignoranten und Mobber. Und dann scheiden sie also aus dem Leben, zerren andere mit in den Tod, die mit ihrem persönlichen Frust nun rein gar nichts zu tun haben, hinterlassen Trümmer und Fassungslosigkeit bei den Überbliebenen. Und meinten wirklich, sie könnten Gott huldigen, indem sie frustriert, gramgebeugt, ohne einmal zu lächeln, zerfetzt und zerlumpt, im Schlepptau eine Horde vor Schmerzen Stöhnender, die sich völlig fehl am Platze fühlen und es auch sind, meinten also, so vor ihn treten zu können, vor ihn, der sie geschaffen haben soll, weil er sie und das Leben liebt? Ernsthaft?! Religion kann und muss nichts Rationales haben, aber dass sie so unlogisch ist, das akzeptiere ich nicht.
Ich glaube, ich habe gute Gründe, kritisch zu sein. Das Negative wiegt überdies schwerer, alte Psychologenweisheit. Es wird schwer, mich wieder zu Religion zu bringen. Das Obige ist nicht alles, was ich so erlebt und gedacht habe. Es ist ein Anfang eines Gedankenprozesses. Weg von Religion. Hin zu Ethik. Ich unterrichte nicht gern Ethik, weil sie anstrengend und fordernd ist. Aber immer deutlicher zeichnet sich für mich ab, dass sie der Königsweg zur Religion sein muss, wenn man die beiden denn dringend verknüpfen will. Nicht umgekehrt.